Das Leben hinter den Zahlen

Kinder bekommt eine israelische Frau im Schnitt. Das ist Rekord in der westlichen Welt. Woher kommt der Kult ums Kind?

Im Land, in dem Milch und Honig fließen, fließt heute eines nicht: der Verkehr. Vor der Schule stauen sich an diesem Morgen die Autos, rücken im Schritttempo an das Gebäude heran. Liat Mordechechay Hertanu, drei Kinder auf dem Rücksitz, drei Schulranzen gestapelt auf dem Beifahrersitz, bleibt trotzdem ruhig. Wer soll sich über stockenden Verkehr ärgern, in einem Land, in dem regelmäßig Krieg herrscht?

Es ist ein sonniger Morgen in Ganei Tikva, einem kleinen Ort in Israel, unweit der Küstenmetropole Tel Aviv. Wie fast jeden Tag bringt Liat ihre drei Kinder zur Schule. Dass sie dabei kurz im Stau steht, liegt vor allem an der Zahl der Kinder, die hier aus den Autos steigen. Ein Kind wäre schnell herausgehüpft – doch aus den meisten Wagen springen zwei, drei oder sogar vier. Das dauert, doch niemand stört sich daran. So wie sich in Israel nie jemand an Kindern stört.

Es ist ein sonniger Morgen in Ganei Tikva, einem kleinen Ort in Israel, unweit der Küstenmetropole Tel Aviv. Wie fast jeden Tag bringt Liat ihre drei Kinder zur Schule. Dass sie dabei kurz im Stau steht, liegt vor allem an der Zahl der Kinder, die hier aus den Autos steigen. Ein Kind wäre schnell herausgehüpft – doch aus den meisten Wagen springen zwei, drei oder sogar vier. Das dauert, doch niemand stört sich daran. So wie sich in Israel nie jemand an Kindern stört. ranzen gepackt?“, ruft Liat zum Frühstückstisch herüber. Abigail und Daniel nicken. Trotzdem überprüft die 39-Jährige die Hefte der drei, geht drei Stundenpläne durch. Gibt drei Abschiedsküsse, bevor die Kinder im Schulgebäude verschwinden.

Ob zwei Kinder auch genügen oder gar nur eins – diese Frage haben sich Liat und Gilad nie gestellt. „Jeder in Israel hat drei oder vier“, sagt Liat. „Niemand denkt daran, nach zweien aufzuhören.“ Liat ist inzwischen in ihrer Firma angekommen, die sie mit ihrem Mann gegründet hat. Israel ist bekannt für seine High-Tech-Branche, und Familie Mordechay Hertanu ist Teil davon. 2013 erfand das Paar „24me“, eine App, die Nutzern hilft, ihr Leben zu organisieren. Seitdem arbeiten die beiden Gründer in Vollzeit. In ihrem Konferenzraum erklärt Liat, wie Is rael es schafft, wirtschaftlichen Erfolg mit Kinderreichtum zu vereinbaren. „Der Schlüssel ist unser Netzwerk. Jeder Israeli kann sich auf viele Menschen stützen.“ Dazu zählen die Großeltern, die häufig in der Nähe leben und sich mehrfach pro Woche um die Kinder kümmern, aber auch Nachbarn passen schon mal auf. „Wir Juden haben ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl“, sagt Liat. Das gehe so weit, dass sie im Supermarkt manchmal Fremde bitte, ein Auge auf ihre Kinder zu werfen, während sie im nächsten Gang etwas holt. „Das Band, das wir haben, gibt uns Sicherheit.“ Es ist, als habe jeder Israeli zwei Familien. Die eigene – und die jüdische Bevölkerung von 6,5 Millionen, vereint durch den Konflikt mit den muslimischen Nachbarn.

Beide Familien zu pflegen gehört zum israelischen Selbstverständnis. Selbst junge Israelis verbringen ihren Freitagabend oft beim Sabbatessen mit der Familie. Seine Eltern nur an Feiertagen zu sehen wie bei uns üblich, ist für viele Israelis undenkbar. In einer unsicheren Region ist die Familie wie ein Sicherheitsnetz, das sich mit jeder Generation neu aufspannt. Je mehr Menschen es halten, desto besser.

Als Nation ist der Zusammenhalt ebenfalls enorm. Jeder tote Soldat, jedes Terror heilig“, sagt Orna Donath. Die 41-Jährige Soziologin wurde 2015 international bekannt durch ihre Studie „Regretting Motherhood“, in der israelische Frauen bedauerten, Kinder bekommen zu haben. In Israel, sagt Donath, sei der Wunsch nach vielen Kindern in sozialen Druck umgeschlagen. Weil die Gesellschaft sehr offenherzig sei, werde man ständig nach seinen Kindern gefragt – und müsse sich selbst vor Fremden für ihre Anzahl rechtfertigen. „Mit zwei Kindern erfüllt man nicht die Norm“, sagt Donath. „Wer nur ein Kind hat, wird sogar behandelt, als schade er seinem Sohn oder seiner Tochter.“ Über die Kosten der hohen Kinderzahl, die finanziellen und die emotionalen, wird kaum gesprochen.

Die Rahmenbedingungen für Eltern in Israel sind schlechter als in Deutschland. Der Mutterschutz beträgt nur 15 Wochen, Betreuung kostet im Schnitt mehrere hundert Euro im Monat. Gleichzeitig ist das Leben in Israel teuer. In vielen Familien müssten beide Eltern voll arbeiten, sagt Donath. Und trotzdem sei es oft schwer, so viele Kinder zu unterhalten.

Ich denke, dass viele Familien gerade so über die Runden kommen“, sagt Anat Rotstein. Die 40-Jährige hat sich auf ihr Kunstledersofa im Wohnzimmer gesetzt – das Stehen fällt ihr schwer. Denn Anat ist im neunten Monat schwanger. Sie erwartet das Kind zwei Wochen nach unserem Treffen.

Anat ist eine untypische Israelin: Anders als die meisten hat sie viele Jahre gewartet, bevor sie heiraten und Kinder kriegen wollte. Sie arbeitete als Computerspezialistin, kaufte eine Wohnung, reiste nach Thailand. Wollte Zeit für sich haben, bevor sie ihr Leben der Familie widmet.

Das Heiratsalter für Frauen liegt im Schnitt bei 26 Jahren, mit 28 bekommen die meisten ihr erstes Kind. Anat dagegen war schon 38, als sie ihren Mann Noam kennenlernte. Und anders als viele Israelis wollen sie und Noam höchstens zwei Kinder. „Kann man Vollzeit arbeiten und drei oder vier Kindern genug Aufmerksamkeit schenken?“, fragt Anat. „Ich denke nicht.“ Sie kenne Familien, in denen Kredite aufgenommen würden, um die Kinder zu finanzieren. Andere Paare lebten bei ihren Eltern, um Miete zu sparen. „Der Druck, viele Kinder zu bekommen, ist sehr hoch“, sagt Anat.

Das hat auch politische Gründe. In Israel leben nicht nur Juden, sondern auch etwa 25 Prozent Muslime und Christen. Seit Jahrzehnten warnen israelische Politiker davor, dass diese Zahl steigen und die Idee eines jüdischen Staates untergraben könnte. Und noch eine Gruppe bekommt in Israel außergewöhnlich viele Kinder: religiöse Israelis, sogenannte Ultra-Orthodoxe. Sie sehen es als ihre göttliche Pflicht, das jüdische Volk zu mehren, weshalb sie oft sechs, acht oder zehn Kinder bekommen. Gleichzeitig arbeiten viele Ultra-Orthodoxe nicht, sondern widmen sich ausschließlich dem Thora-Studium und leben von staatlicher Hilfe. Dem Armeedienst, wie ihn alle anderen Männer und Frauen leisten müssen, verweigern sie sich bisher. Es liegt also im Interesse der israelischen Politik, dass säkulare, jüdische Frauen wie Liat Mordechay Hertanu oder Anat Rotstein viele Kinder bekommen. Nur so können der Staat, sein Sozial- und Wirtschaftssystem, langfristig funktionieren. Weil Kinder der Gesellschaft so wichtig sind, haben Israelis, die keine bekommen können, Anspruch auf künstliche Befruchtung. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für zwei Kinder, die durch In-Vitro-Fertilisation entstehen – ganz gleich, wie viele Versuche es braucht. In Deutschland bezahlen die Kassen nur 50 Prozent der Behandlung, und das auch nur für drei Zyklen.

Auch Anat und Noam schafften es nicht, auf natürlichem Weg ein Kind zu zeugen und entschieden sich für eine künstliche Befruchtung. Der erste Versuch schlug fehl, doch Anfang 2017 zeigte Anats Test endlich an: schwanger. Nun ist es bald soweit, der gepackte Krankenhauskoffer steht schon bereit. Anat und Noam haben eine Wickelkommode und einen Teddy für das Kind gekauft. Es soll ein Junge werden.

In Israel werden inzwischen vier Prozent der Kinder durch Techniken der Reproduktionsmedizin gezeugt. Anders als in Deutschland gilt die staatliche Förderung nicht nur für Verheiratete, auch Alleinstehenden oder homosexuellen Paaren wird die Behandlung finanziert. „Jedes Jahr steigt die Zahl der Menschen, die zu uns kommen“, sagt Dr. Shay Elizur, leitender Arzt von Assuta, jener Klinik, in der Anat und Noam sich behandeln ließen. Einige Frauen durchlaufen ein halbes Dutzend Versuche, bevor sie schwanger werden – alle vom Staat bezahlt.

Was der Staat hingegen nicht bezahlt, ist eine lange Elternzeit. 15 Wochen wird Anat von ihrer Firma freigestellt. Sie will unentgeltlich um acht weitere Wochen verlängern – danach kommt das Kind in eine Krippe. Trotz zwei gut bezahlter Jobs wird es finanziell nicht leicht für das Paar. „Wir werden uns einschränken müssen“, sagt Anat.

Auch Liat und Gilad Hertenu zahlen einen Preis dafür, drei Kinder und eine eigene Firma haben. Zwei Mal pro Woche kümmert sich Gilads Mutter nachmittags um die Kinder, die anderen drei Nachmittage teilen sich Liat und Gilad, ab und zu helfen auch Freunde oder Nachbarn. Manchmal sehen Gilad und Liat die Kinder nur abends. Und wenn die drei schlafen, arbeitet das StartUp-Ehepaar oft am Esstisch weiter.

Wir sind manchmal sehr, sehr müde“, sagt Gilad. Doch wenn sie am Abendbrottisch sitzen und Daniel, Abigail und Naomi von ihrem Tag erzählen, ist die Mühe vergessen. „Sie sind wie ein perfektes Orchester“, sagt Liat. „Ein Leben mit nur zwei Kindern kann ich mir nicht vorstellen.“ Am liebsten hätte sie sogar ein viertes. Gilad zögert noch.

Vor Kurzem wurde Elai, der Sohn von Anat und Noam geboren. Ihr zweites Kind wollen sie bald bekommen. Der Arzt hat gesagt, sie müssten sich beeilen.

ALEXANDRA ROJKOV, 29, wurde in Israel häufig mit einem Sprichwort bedacht: „Bald auch für dich!“ Niemand kam auf den Gedanken, sie zu fragen, ob sie überhaupt jemals Kinder haben will

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